Anlässlich des 80. Geburtstags von Hermann Litterst (1940 - 2022) am 7. November 2020 hat der Gemeinderat die Aufarbeitung und Dokumentation der Ereignisse im Zuge der Gemeindereform beschlossen und diese Aufgabe dem Ortenberger Historiker und Bürgersohn David Schmid übertragen. Bis zur Abschluss der Arbeit - zum 50-jährigen "Jubiläum" des gesicherten Erhalts der Selbständigkeit im Juli 2024 wird in mehreren kurzen Rückblenden der Fokus auf wichtige und entscheidende Ereignisse auf dem Weg dorthin gerichtet. Eine ebenso spannende wie unterhaltsame Rückschau:
Cui bono? Wem nutzt es?“ Marcus Tullius Cicero, römischer Staatsmann, Pro Sexto Roscio Amerino, 84c
„Alle Umlandgemeinden haben sich der Stadt Offenburg angeschlossen. Alle? Nein! Eine von unbeugsamen Ortenbergern bevölkerte Gemeinde hat nicht aufgehört, gegen die Eingemeindung Widerstand zu leisten. Bis heute ist Ortenberg selbständig und mit dieser Entscheidung sehr zufrieden.“ So titelte es damals das Offenburger Tageblatt im Februar 2013 anlässlich der 40-jährigen Eigenständigkeit unserer Gemeinde.
Oft wird – augenzwinkernd - diese Analogie zu Asterix und seinem, nahezu vollständig „von den römischen Invasoren umzingelten“ gallischen Dorf bemüht, wenn es um die Bestrebungen der Ortenberger Bevölkerung und ihres damaligen Bürgermeisters Hermann Litterst zum Erhalt der kommunalpolitischen Selbständigkeit geht. Doch wie nah liegt dieser Vergleich? Oder lässt es sich womöglich gar nicht erst vergleichen?
2020 jährt sich für die Gemeinde Ortenberg der Beginn des Ringens um die Selbstständigkeit zum fünfzigsten Mal, denn nachdem der Prozess bereits drei Jahre zuvor angestoßen war, wurde es im Herbst 1970 ernst: Der damalige Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger legte die „Konzeption der Landesregierung für die Verwaltungsreform in Baden-Württemberg“ vor. Es endete - für Ortenberg erfolgreich - mit Verkündung des „Besonderen Gemeindereformgesetzes“ im Juli 1974.
Grund genug, sich mit der wohl wichtigsten und nachhaltigsten politischen Entscheidung der Nachkriegsgeschichte genauer zu befassen. Deshalb beginnt im Herbst 2020 unser spannendes Forschungsprojekt, das die wichtigsten Schritte, Akteure und Ereignisse nochmals beleuchten soll. Dieses historisch so lebensnahe Beispiel wird zeigen, dass Verwaltungsgeschichte alles andere als trocken ist: Es veranschaulicht einerseits, welch hohe Brisanz und Emotionalität mit einem Verwaltungsvorgang verbunden sein können und andererseits welche Besonnenheit, welches Engagement und welchen Mut man aufwenden musste, um das Ziel, den Erhalt der kommunalpolitischen Eigenständigkeit zu erreichen. Gleichzeitig wird aber ebenso verdeutlicht, welche Verantwortung dies bedingt und welche Folgen damit verbunden waren. Die Gemeinde und ihr Bürgermeister mussten einen medialen Spießroutenlauf hinnehmen, der bis heute unvergleichbar ist. Doch gereichte der Alleingang den Ortenbergerinnen und Ortenbergern bis heute zum Nutzen, wie Staatsmann Cicero fragt? Lassen Sie es uns gemeinsam bis zum 50-jährigen der Sicherung der kommunalen Selbständigkeit im Juli 2024 - dort soll das Abschlussdokument vorliegen – herausfinden!
Den ein oder anderen Ortenberger „Zaubertrank“ wird Bürgermeister Hermann Litterst damals vermutlich gebraucht haben, um sich gegen die Großen nach „Außen“ zur Wehr setzen und auch nach „Innen“ überzeugen zu können. Im Herbst 2020 wird er, der damals wichtigste Vertreter der Gemeinde im Ringen um die Eigenständigkeit, 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass und zur Würdigung seiner Verdienste sollen das Forschungsprojekt und die damit verbundene Denkschrift ihm gewidmet sein.
Ortenberg im Herbst 2020
Dass Ortenberg eine selbstständige Gemeinde mit eigenem Bürgermeister und eigener Verwaltung hat, wird heute – sprichwörtlich – als Selbstverständnis angenommen. Doch wie kommt es eigentlich, dass die Umlandgemeinden im Großraum Offenburg, beispielsweise Zell-Weierbach, Elgersweier oder Bohlsbach heute Ortsteile der großen Kreisstadt sind – und Ortenberg eben nicht? Immer wieder hört man die Asterix-Analogie zum „Gallischen Dorf“, was sich bis heute ins kulturelle Gedächtnis der Gemeinde eingeprägt hat. Doch woran liegt das? Gerne laden wir Sie ein mit uns eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen, um diese Fragen zu beantworten.
Genau genommen befinden wir uns heute, also im Herbst 2022, fast genau 50 Jahre nach der wirklich entscheidenden Phase für die Selbstständigkeit der Gemeinde Ortenberg. Doch nicht nur im Bezug auf die Gemeinde, sondern auch auf welt- und bundespolitischer Bühne war die zweite Jahreshälfte von Ereignissen geprägt, die heutzutage immer noch von großer Bedeutung sind: während Richard Nixon in den USA mit der Watergate-Affäre kämpfte, drangen am 5. September palästinensische Terroristen in das olympische Dorf in München ein und überfallen das israelische Mannschaftsquartier. Dabei wurden zwei Sportler ermordet und neun weitere als Geiseln genommen. Die Befreiungsaktion endete im Blutbad. Mitte September stellt Willy Brandt im Bundestag erstmals die Vertrauensfrage und verliert. Es kommt zu vorgezogenen Neuwahlen, die Brandt im Dezember 1972 gewinnen sollte. Geht man nun von der Bundes- auf die Landesebene und noch einmal zwanzig Jahre weiter zurück, so findet man sich zur Geburtsstunde von Baden-Württemberg – neudeutsch auch „The Länd“ genannt“ – ein. Im April 1952 wurde aus (Süd-)Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern das heutige Baden-Württemberg, bei dem Baden nicht zu Unrecht an erster Stelle steht.
Doch diese Gründung des „Südweststaats“ sollte bereits in der Geburtsstunde von Querelen begleitet werden, die bis heute anhalten. Im Grundgesetzt Art. 29a wurde die Regelung zur Neuordnung des Bundesgebiets getroffen. Per Bundesgesetz vom 4. Mai 1951 wurde dann eine Volksabstimmung in den alten drei Ländern verabschiedet. Diese Volksabstimmung fand am 9. Dezember 1951 auch statt, weil Badens Klage gegen die Abstimmung vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden war. Badens Ministerpräsident Leo Wohleb war ein Gegner dieser Abstimmung. Auch in Ortenberg war damals die Mehrheit der Bürgerschaft für eine badische Selbstständigkeit. Die Unterschiede im Abstimmungsverhalten der damaligen Bevölkerung in Baden und Württemberg hätten übrigens nicht größer sein können: Während im damaligen Württemberg 93% der Bevölkerung FÜR die Vereinigung mit Baden stimmten, waren es hier gar 52% die GEGEN die Fusion stimmten.
Warum ist dieser geschichtliche Hintergrund wichtig, wenn man sich mit der Frage um die Selbstständigkeit einer Gemeinde 20 oder heute gar 70 Jahre danach befasst?
Hinter jeder Fusion oder Zusammenlegung steht doch am Ende das Ziel der Verschlankung, Vereinheitlichung und Effizienzsteigerung. Das neugegründete „Länd“ war gerade einmal zehn Jahre alt, da kamen bereits die ersten Fragen nach den drei genannten Punkten auf. Warum funktioniert Verwaltung in Sigmaringen anders als in Karlsruhe? Warum warte ich in Aalen beim Standesamt kürzer auf einen Termin als in Freiburg? Braucht es für die Ortschaften im Hochschwarzwald und auf der Alb mit mehr Milchvieh als Einwohnern überhaupt eine eigenständige Gemeindeverwaltung?
Der Status Quo Mitte der 1960er Jahre war in gewisser Weise so, dass jedes Dorf einen eigenen Bürgermeister, Gemeinderat und eine eigene Gemeindeverwaltung hatte. Auf dem Bürgermeisteramt konnten dann eine Reihe an Verwaltungsaufgaben für die Bevölkerung durchgeführt werden. Selbstverständlich waren die Bedarfe damals noch andere als heute, aber auch die Arbeitsweise war mangels Computer ganz anders gelagert als man sich das heute in einer Verwaltung vorstellen mag. Den Regierenden in Stuttgart – und auch in anderen Bundesländern – wurde immer mehr klar, dass die Gemeinden in ihrer Verwaltung gestärkt werden mussten. Die Herausforderungen, gerade für kleinere Gemeinden, wurden immer größer, denn die Verwaltung konnte mit den Entwicklungen von Gesellschaft und Wirtschaft (Boom-Jahre) nicht mithalten. Auch die Kommunen selbst erlebten einen Wandel. Durch den Wirtschaftsaufschwung wurde die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte immer mehr, denn viele Menschen pendelten zur Arbeit und arbeiteten nicht mehr (nur) zuhause. Oder sie wanderten gar direkt in die großen Ballungszentren ab. Zu dieser Zeit begann das, was man heute unter dem Phänomen der Landflucht kennt. Vielfach wuchsen die Städte ins Umland hinein, also auch in andere Gemeinden („Stadt-Umland-Problem“). Weil dies auch in anderen Bundesländern der Fall war, wurde Mitte der 1960er Jahre erstmals bundesweit über Verwaltungsreformen auf unterster Ebene offen debattiert. Das Ziel war dabei klar. Die Reformen sollten die Gegensätze abfedern, damit diese nicht noch weiterwachsen konnten. Zudem sollte die Verwaltung neu geordnet, vereinfacht und auch verschlankt werden. Hierzu wurden mehrere Kommissionen gegründet, um den Bedarf aufzuklären und einen Zielplanung zu erstellen. Dazu wurde ein Landesentwicklungsplan erstellt, mithilfe dessen die Reformen im Einzelnen geplant und durchgeführt werden sollten. Das Ziel der Reformen war die Stärkung der Verwaltungskraft kleinerer Gemeinden, was per gleichlautendem Gesetz ( https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/gesetzblaetter/1968/GBl196808.pdf ) im März 1968 im Landtag auch so verkündet wurde. In Baden-Württemberg gab es zu diesem Zeitpunkt 3.379 selbstständige Gemeinden. Aus diesen sollten laut Zielplanung mittels Zusammenschlüsse und Eingemeindungen nur noch rund 1.000 werden. Gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen und Interessengegensätze zwischen den Gemeinden abzubauen war das Credo der Reform.
Welche
Möglichkeiten der Gesetzgeber den Bürgermeistern und der Bevölkerung gab,
welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einflüsse die Reform auf das
tägliche Leben der Menschen hatte. Und welche Akteure in Ortenberg und im
Umland von besonderer Wichtigkeit waren, das möchten wir Ihnen gerne in den
nächsten Kapiteln dieses Forschungsblogs präsentieren.
Herbst 2022
Von „Hochzeitsgeschenken“, „Hinterbänklern“ und einem „verlockenden Angebot“ –
Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Verwaltungskraft kleinerer Gemeinden“ vom 7. März 1968 wurde in Baden-Württemberg die Gemeindereform eingeleitet. Damit sollten flächendeckend in Stadt und Land gleichwertige Lebensverhältnisse für die Bürgerinnen und Bürger geschaffen und Interessengegensätze zwischen Gemeinden, die in Stadt und Umland aufgrund der unterschiedlichen wirtschaften und sozialen Entwicklung entstanden waren, abgebaut werden. Dieses sog. „Stadt-Umland-Problem“ äußerte sich etwa darin, dass Arbeitsplätze häufig in größeren Städten entstanden, die Arbeitnehmer aber in anderen Gemeinden wohnten und dort die Wohn-Infrastruktur geschaffen werden musste. Als Mindestgröße für eine neue Gemeinde wurden 8.000 Einwohner ausgegeben. Grundlage für diese Bemessungsgröße waren die Gutachten zweier Kommissionen, die das Innenministerium eingesetzt hatte, der „Reschke-Kommission“ und der „Dichtel-Kommission“. Letztere befasste sich vor allem mit der Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Als Lösungen wurden zunächst nur die der Eingemeindungen bzw. der Gemeindezusammenschlüsse jeweils mit und ohne Ortschaftsverfassung in Aussicht gestellt.
Auch auf Grundlage dieser Gutachten erstellten die Planer im Stuttgarter Innenministerium mehrere sog. „Zielplanungen“. Sowohl der erste als auch noch der zweite Zielplanungsentwurf im Dezember 1971 sah die Eingemeindung Ortenbergs nach Offenburg vor.
Doch bereits am 10. November 1969 – also noch vor dessen Amtsantritt – teilte Hermann Litterst dem Offenburger Oberbürgermeister Karl Heitz im Weingut St. Andreas anlässlich des dortigen Herbstabschlussfests mit, dass für ihn eine Eingemeindung „keineswegs in Frage käme“.
Hochzeitsgeschenke
Den Gemeinden, die sich freiwillig eingemeindeten, gab die Landesregierung Sonderzuschüsse nach dem Finanzausgleichsgesetz. Darüber hinaus sind in der damaligen Tagespresse immer wieder zwei Begriffe zu finden: einerseits das „Modell Offenburg“, eine Art Muster zur Eingemeindung des Umlands und damit Schaffung eines wirtschaftlichen Oberzentrums in Mittelbaden, und die immer wieder erwähnten „Hochzeitsgeschenke“. Damit waren mögliche Versprechen, aber auch klare Abmachungen als Bedingung für eine Eingemeindung gemeint, die OB Heitz mit den Bürgermeistern der Umlandgemeinden einging. Bedingung für die Sonderzuschüsse war, dass eine Bürgeranhörung bis zum 2. April 1972 stattgefunden und die Eingemeindung spätestens zum 1. Januar 1973 vollzogen sein musste. Heitz wohnte fast allen dieser Bürgeranhörungen im Offenburger Umland bei und gab viele Versprechungen ab – außer in Ortenberg, denn hier gab es als einziger Umlandgemeinde keine Bürgeranhörung!
In freiwilliger Übereinkunft wurden mit Wirkung ab dem 1. Januar 1971 Zell-Weierbach und Fessenbach, und ab dem 1. Dezember 1971 die Gemeinden Bühl, Elgersweier, Griesheim, Rammersweier, Waltersweier und Weier in die Stadt Offenburg eingegliedert.
Bohlsbach, Windschläg und Ortenberg hatten sich noch nicht dafür entschieden.
In der Gemeinderatssitzung am 14. April 1971 in Ortenberg wurde die Stellungnahme zur 2. Zielplanung beraten und erneut lehnten alle Mitglieder des Gemeinderates eine Eingemeindung zur Stadt Offenburg ab. Gemeinderat Walter Humpert resümierte, er werde niemals einer Eingemeindung zustimmen, niemals das Amt eines Stadtrates begleiten und niemals das Amt eines Ortschaftsrates annehmen.
Gemeinderat Josef Frei sagte, er wolle sich von seinen Kindern nicht sagen lassen, er habe die Gemeinde verkauft. Indiskutabel war die Frage für Gemeinderat Karl Gütle. Erwin Münchenbach und Hans Sieferle schlossen sich diesen Auffassungen an. Gemeinderat Mock äußerte sich gar, dass über das Thema überhaupt nicht mehr viel gesprochen werden sollte.
Ortenberg bleibt hartnäckig
Im Oktober 1971 – von 1947 bis 1971 galt das „rollierende System“ das alle drei Jahre die Wahl des halben Plenums vorsah - wurden vier neue Gemeinderäte gewählt. Auf Aufforderung des Landratsamtes wurde die Gemeinde erneut zur Stellungnahme aufgefordert. Doch auch für die neuen Mitglieder Horst Baumann, Alfons Münchenbach, Gerhard Riedinger und Werner Sälinger war dies keine Frage. Wieder einstimmig lehnte der Gemeinderat die Zielplanung ab und forderte „mit Nachdruck die Erhaltung einer selbständigen Gemeinde Ortenberg.“
In der am 13. Dezember 1971 stattgefundenen Anhörung des Innenministeriums wurde dem Bürgermeister jedoch eröffnet, dass ein Zusammenschluss mit anderen Gemeinden erforderlich wäre. Ortenberg gehöre zum Verwaltungsraum Offenburg.
Ein verlockendes Angebot?
Wenige Tag später wurde Hermann Litterst in einem persönlichen Gespräch vom Offenburger Oberbürgermeister Heitz unterbreitet, Ortenberg habe „in keiner Weise eine Chance einer gesetzlichen Eingemeindung zu entgehen“ und er machte Hermann Litterst dabei ein "verlockendes Angebot“ indem er ihm gewisse „Garantien“, etwa den „hauptamtlichen Ortsvorsteher bis zur Pension“, für ein Einlenken anbot.
Erneut musste sich der Gemeinderat am 20. Dezember 1971 mit dem unliebsamen Thema befassen, erneut ergab die Abstimmung ein ebenso deutliches wie einstimmiges Ergebnis. In der Antwort an OB Heitz wurde aber ausdrücklich betont, dass die Gemeinde Ortenberg besonderen Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit der Stadt Offenburg lege und „keinesfalls in einer gewissen Feindschaft zu dieser leben möchte“.
Im Eifer der Diskussion dieser Unterredung beging OB Heitz jedoch einen entscheidenden taktischen Fehler, der sich schon bald für die Stadt als sehr nachteilig auf das Durchdringen in Stuttgart auswirken sollte. Doch dazu später.
Der Hinterbänkler
In besagtem Gespräch am 13. Dezember 1971 mit OB Heitz wurde Litterst laut Aktennotiz ein Schreckensszenario aufgebaut. Ein Angebot auf Beitritt mit der unliebsamen Ortschaftsverfassung, war das letzte Angebot, das Heitz machte. Er stellte im Verlauf des Gesprächs Litterst auch in Aussicht, dass er seine Hoffnungen auch nicht auf die Landtagswahl 1972 schieben solle – für ein „unabhängiges Ortenberg“ sehe er, der Schöpfer und Promoter des „Modells Offenburg“ keine Chance.
Ein Streitgespräch, das auch auf einem gewissen Generationenkonflikt und unterschiedlichem Verständnis von Politik und Demokratie dieser Zeit beruht haben mag. Hier der altväterliche und „ewige“ Heitz, Jahrgang 1900, mit seiner enormen politischen Erfahrung und seit über zwanzig Jahren Oberbürgermeister der großen Stadt Offenburgs. Und dort der vierzig Jahre jüngere, engagierte und ehrgeizige „Newcomer“ Litterst, Bürgermeister des kleinen Ortenberg.
Doch warum mag dieser Generationenunterschied so eine große Bedeutung gehabt haben? Das Landtagsmandat des Wahlkreises Offenburg wurde wenige Monate zuvor neu besetzt. Für den erkrankten Erhard Schrempp, einem Intimus von Heitz, rückte der erst 36-jährige Lahrer Polizeischullehrer Robert Ruder nach. Ruder war zeitgleich auch Vorsitzender der Jungen Union Südbaden, deren Veranstaltungen Litterst immer wieder beiwohnte. Litterst erkannte frühzeitig, dass er in der Personalie Ruder, möglicherweise weiterhin einen Fürsprecher für die Selbständigkeit Ortenbergs habe. Man tauschte sich oft aus und verstand sich offensichtlich auch gut, was die politischen Ansichten anging. Denn Ruder betonte gegenüber Litterst, dass er nach wie vor von der Freiwilligkeit der Gemeinden zur Eingemeindung überzeugt sei und sprach sich ganz klar gegen Zwangslösungen aus. Damit ging er als Landtagsabgeordneter des Wahlkreises auch öffentlich in klare Opposition zum Modell Offenburg und dem dominierenden Akteur, OB Karl Heitz.
Dies nahm Litterst zum Anlass, um im besagten Gespräch mit Heitz am 13. Dezember 1971 die Sichtweise Ruders vorzubringen. Er habe mehrfach mit Ruder gesprochen und dieser habe ihm seine Unterstützung für Ortenberg zugesagt.
Für Heitz muss alleine der Name Ruder ein rotes Tuch gewesen sein. Eindringlich und sehr gereizt, wie Litterst später schildert, habe Heitz auf ihn eingeredet und mehrfach betont, dass der „junge Ruder“ sich da komplett selbst überschätze. Ruder habe überhaupt keinen Einfluss und „mehr als ein Hinterbänkler“ sei der doch gar nicht. Im Gegenteil, Heitz baute ein weiteres Schreckensszenario auf, sich auf einen wie Ruder zu verlassen, davor könne er Litterst nur warnen.
Litterst nahm die Worte von Heitz mit in die Sitzung des Gemeinderats am 20. Dezember 1972, das Votum des Gemeinderats blieb jedoch unverändert und einstimmig! Gleichzeitig hatte Litterst mit der „Hinterbänkler“-Aussage nun aber auch einen gewisse „Trumpf“ bei Ruder in der Hinterhand, den er nachhaltig einsetzen sollte: Zunächst ließ Heitz den jungen Ortenberger Bürgermeister nochmals im Januar 1972 vorsprechen. Litterst überbrachte das Votum des Gemeinderats, betonte aber gleichzeitig, dass der Gemeinde weiterhin an guter Zusammenarbeit sehr gelegen sei. Danach schloss sich die Gemeinde einer Klage des Verbands Badischer Gemeinden an, die beim Staatsgerichtshof gegen die Finanzierung der bereits erwähnten „Hochzeitsgeschenke“ aus der Finanzausgleichsmasse klagte. Somit war ein weiterer Schritt und eine öffentliche Positionierung gegen diese Politik des „Eingemeindens durch Einkaufen“ getan. Mit dem Sieg der CDU mit absoluter Mehrheit bei den Landtagswahlen 1972 änderte sich das politische Klima im Bezug auf das Thema Eingemeindung nochmals gravierend, denn es war die CDU, die immer wieder die Freiwilligkeit der Gemeinden beim Zusammenschluss betonte. Litterst schätzte den Zeitgeist und die Stimmung richtig ein und spielte nun seinen „Trumpf“ bei Ruder aus. Dass dieser von der „Hinterbänkler“-Aussage des Offenburger Stadtoberhaupts ganz und gar nicht begeistert war, erscheint nachvollziehbar.
Wie Litterst betonte, fühlte sich Ruder von dieser Aussage gerade zu herausgefordert, mit Heitz und der Stadt Offenburg in (öffentliche) Opposition zu gehen. Das könne er nicht auf sich sitzen lassen. Und so war es Ruder, der Litterst den (einzigen) Termin in Stuttgart bei Staatssekretär Teufel am 14. Dezember 1972 ermöglichte. Das Treffen hatte aber nicht nur aufgrund der direkten Vorsprache im Innenministerium sehr hohe Bedeutung (wann bekommt man denn überhaupt eine solche Chance?), sondern auch im Bezug auf das Timing! Denn nur kurz zuvor hatte die neue Landesregierung bekanntgegeben, dass die finalen Zielplanungen („Dritte Runde“) zum Abschluss der Gemeindereform anstehen würden! Ein logischer Schritt, da die Frist zu Eingemeindungen am 31. Dezember desselben Jahres ablief. Die Veröffentlichung der Zielplanung und damit der Abschluss des gesamten Prozesses war bereits für die Mitte des ersten Quartals 1973 avisiert.
Das gibt dem Ermöglichen des Termins auf höchster politischer Ebene beim zuständigen Staatssekretär und auch der Unterstützung und seinem Einsatz für Litterst und Ortenberg während dieses Gesprächs mit Teufel eine gravierende Bedeutung. Denn dies war sprichwörtlich die „allerletzte Chance“ in dieser gesamten Thematik überhaupt noch einmal in irgendeiner Art und Weise für den Erhalt der Selbstständigkeit persönlich tätig zu werden.
OB Heitz unterschätzte Littersts Beharrlichkeit und den Einfluss Ruders komplett. Litterst sagte in einem persönlichen Gespräch einmal über Ruder, Teufel und seine Person, dass sie eben alle drei gleich ticken würden, weil sie aus derselben Generation kämen. Alle drei seien durch den ländlichen Raum geprägt, denn Teufel – gebürtigt in Zimmern ob Rottweil - sei ja auch wie er jung Bürgermeister geworden (Anm. im Alter von 26 Jahren in Spaichingen) und auch Ruder sei die Eingemeindung von Hugsweier, seiner Heimat, an Lahr nicht so recht gewesen. Außerdem sei er (und auch die beiden anderen9 ja in die Politik gegangen, um etwas zu bewirken. Auch in der Personalie Ruder hatte Heitz sich nicht nur geringfügig verschätzt. Der „Hinterbänkler“ Ruder beerbte Erwin Teufel 1978 als Staatssekretär im Innenministerium, hatte ab 1980 Sitz und Stimme im Kabinett von Lothar Späth und vertrat den Wahlkreis Offenburg bis 2001 als Abgeordneter im Landtag.
Für
den Erhalt der kommunalen Selbständigkeit Ortenbergs, war der Winter 1972/73
von sehr großer Bedeutung. Auf politischer Ebene waren in Baden-Württemberg mit
der Landtagswahl 1972 massive Veränderungen eingetreten. Die große Koalition
wurde abgelöst, da die CDU unter Hans Filbinger die absolute Mehrheit erlangte. Die neue Regierung kündigte den Abschluss der 1968 eingeleiteten Verwaltungs- und Gemeindereform innerhalb der Legislaturperiode an. Das Schlussgesetz sollte bis im Sommer 1974 verabschiedet sein. Bis im Sommer 1973 sollte die sog. Zielplanung fertig sein. Bereits Ende 1972 wurde der zweite Entwurf der Zielplanung vorgelegt und die Gemeinden erneut angehört. Dieser sah die Eingemeindung Ortenbergs nach Offenburg vor, was man hier jedoch einmütig als indiskutabel abgelehnte.
Der junge Ortenberger Bürgermeister Hermann Litterst erkannte dies als Chance, wollte er doch weiter um die Selbständigkeit Ortenbergs kämpfen. Trotz vieler Abwerbeversuche durch die Stadt Offenburg, der ein oder anderen medialen „Schlammschlacht“ und vermehrt negativer Prognosen, blieben Litterst und der Gemeinderat hartnäckig. Am 3. November 1972 ersuchte Litterst über den Landtagsabgeordneten Robert Ruder (CDU) einen Termin im Innenministerium mit dem neuen Staatssekretär uns späteren (ab 1991) Ministerpräsidenten Erwin Teufel.
Das Treffen konnte dann am 14. Dezember 1972 realisiert werden. Littersts Aktennotiz zufolge war Teufel wohl etwas in Eile, denn im Parlament war Sitzungswoche. Ein Zeitfenster von 20 Minuten konnte er Litterst aber einräumen. Dieser übergab Teufel eine Liste mit den vorhandenen kommunalen Einrichtungen, um darzulegen, wie leistungsfähig Ortenberg bereits aufgestellt sei.
Zudem trug Litterst vor, dass Ortenberg besonders aufgrund seiner Topografie nicht als klassische Umlandgemeinde zu sehen sei. Es eigne sich viel mehr als „Teilverwaltungsraum“. Ruder, der beim Gespräch ebenfalls zugegen war, bestätigte diesen Eindruck. Ein taktisch geschickter Schachzug, diese Besonderheiten nochmals hervorzuheben, denn das Gesetz sah eigentlich vor (nur) „klassische“ Umlandgemeinden einzugemeinden. Teufel schien von den Worten Littersts überzeugt, gab gleichzeitig aber zu bedenken, dass die endgültige Entscheidung darüber abhängig davon sei, was die CDU-Fraktion im Landtag präferiere – „große“ Lösungen, dann hätte Ortenberg keine Chance oder „kleinere“ Lösungen, mit Teilverwaltungsräumen, so wie Teufel sie selbst vorziehen würde.
Nach nicht einmal zwanzig Minuten wurde das Gespräch aber abgebrochen, weil Teufel zurück in den Plenarsaal zur Abstimmung musste. Enttäuscht trat Litterst danach die Heimreise an, hatte er sich doch von dem Gespräch deutlich mehr versprochen. Er hoffte dennoch, dass das Vorgetragene bei Staatssekretär Teufel Berücksichtigung finden würde.
Heute, 50 Jahre später, kann man dieses Treffen als eines der Schlüsselereignisse für den Erhalt der Selbständigkeit bewerten. Ein Bürgermeister, der so engagiert für seine Gemeinde einstand, dabei aber stets die sachlichen Fakten in den Vordergrund rückte, der blieb dem Staatssekretär noch sehr lange in sehr guter Erinnerung.
Entgegen der landläufigen Meinung war dies übrigens das einzige Mal, dass Hermann Litterst in dieser Angelegenheit in Stuttgart vorstellig wurde.
"Hat sich die Fahrt nach Stuttgart nun rentiert? Konnte ich mit meinem kurzen Vortrag überhaupt etwas bewirken?", mag sich ein enttäuschter und desillusionierter Hermann Litterst gefragt haben, als wieder im Zug zurück ins heimatliche Ortenberg saß. Seine Empfindungen hielt er gleich in einer Aktennotiz fest.
In Ortenberg saß man daher Anfang 1973 „auf den Nadeln“. Die Spannung war groß, ob in der dritten und finalen Zielplanung Ortenberg als Teilverwaltungsraum – und damit als faktisch selbständige Gemeinde – auswies oder wie der Stadt Offenburg zuordnete. Es gab keinerlei Hinweise wie das Ergebnis, das nach der Fasent verkündet werden sollte, aussehen würde..... bis zum 21. Februar!
(siehe u.a. F.X. Vollmer: "Schritte zurück in die Vergangenheit eines Ortenaudorfes", S. 110)
Wie im letzten Beitrag beschrieben, war der Winter 1972/1973 für den Erhalt der Selbstständigkeit Ortenbergs von großer Bedeutung. Das Treffen von Bürgermeister Litterst mit Staatssekretär Erwin Teufel und MDL Robert Ruder am 14. Dezember 1972 im Landtagsgebäude in Stuttgart war hierfür wegweisend.
Dass die Kommunalreform an anderen Orten bereits erste Auswirkungen hatte, wurde bereits zum Jahreswechsel 1973 offensichtlich: Anfang Januar wurden die neuen Verbandsgemeinden Neuried, Hohberg und Durbach-Ebersweier offiziell aus der Taufe gehoben. Vielleicht als Reaktion darauf und auf das mediale Echo in der Lokalpresse schrieb Hermann Litterst deshalb am 12. Januar 1973 an MDL Ruder nochmals einen ausführlichen Brief. In diesem ging er erneut auf das gemeinsame Gespräch mit Teufel vom vergangenen Dezember ein. Er unterstrich die Fähigkeit Ortenbergs als einer sich selbst tragenden Gemeinde. Ortenberg stünde als Teilverwaltungsraum – also als selbständige Gemeinde, aber Mitglied etwa einer Verwaltungsgemeinschaft mit anderen Gemeinden - nicht im Widerspruch zu den g Zielen der derzeitigen Regierung. Zudem erfülle die Gemeinde alle Voraussetzungen des sog. Dichtel-Gutachtens, einem Gutachten, in dem die Leistungsfähigkeit der Gemeinden geprüft wurde. Er verwies darauf, dass Ruder selbst und auch Landrat Dr. Gamber für Ortenberg als einem Teilverwaltungsraum plädierten. Darüber hinaus habe der neue Gemeindetag – der kommunale Spitzenverband, dem alle Gemeinden des Landes angehören - im letzten Jahr drei maßgebliche Kriterien für die Auszeichnung als selbstständiger Teilverwaltungsraum ausgegeben: erstens die ausreichende Verwaltungskraft, zweitens eine ausreichende finanzielle Ausstattung und drittens den Selbstbehauptungswillen der Gemeindebevölkerung. Alle drei Kriterien seien laut Litterst erfüllt! Ruder antwortete prompt und versicherte ihm, dass er sich weiter für Ortenberg einsetzen werde.
Am 15. Februar gab es erneut Anlass zum Schriftwechsel. Diesmal direkt an den CDU-Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Lothar Späth. Einige Tage zuvor äußerte sich MDL Gerstner (CDU) aus Rastatt öffentlich dazu, dass man Zwangszusammenschlüsse und Zwangseingemeindungen nicht mehr ausschließen kann. Das war inhaltlich und vor allem bezüglich des Tages der Verkündung problematisch, da die staatliche Zielplanung, also die Festlegung, welche Gemeinde selbstständig bleiben konnte und welche nicht, kurz vor dem Abschluss stand, folglich Bürgermeister und Gemeinderäte landauf, landab sehr (an-)gespannt waren. Im Schreiben erinnerte Litterst Späth daran, dass die CDU immer auf die Freiwilligkeit der Gemeinden gesetzt habe und dass solch ein Umdenken nun ein krasser Wortbruch bedeute. Als Beleg für die Äußerungen Gerstners hängte er die eine ausgegebene Pressemitteilung an. Auch viele andere Bürgermeister-Kollegen hätten sich hierzu schon klar positioniert und seien von den Äußerungen des MDL Gerstner völlig irritiert. Schreiben an Lothar Späth vom 15. Februar 1973.
Nach all den vielen Telefonaten, Briefen und Gesprächen schien der Funken Hoffnung vom Dezember bei Teufel nun auf einmal wieder zu verfliegen. Eine Antwort auf sein Schreiben an Späth erhielt Litterst nie. Das Warten muss sich unerträglich angefühlt haben, sollte doch in wenigen Tagen die dritte Runde der Zielplanung veröffentlich werden. In einer Grundsatzrede während einer Gemeinderatssitzung am 20. Februar ordnete Litterst nochmals das aktuelle Geschehen rund um die Konfusion ein und betonte erneut, dass es im Gemeinderat unter beiden Parteien und in der gesamten Bevölkerung, überhaupt keinen Zweifel am Festhalten an der Selbstständigkeit Ortenbergs gäbe.
Eine Antwort aus Stuttgart gab es dann aber doch - nur einen Tag später: am 21. Februar, erhielt Litterst einen Anruf aus Stuttgart. Am Telefon war Erwin Teufel persönlich. Er unterrichtete den Bürgermeister darüber, in der letzten Kabinettssitzung positiv darauf eingewirkt zu haben, dass Ortenberg nun in der dritten Zielplanung als selbstständiger Teilverwaltungsraum eingestuft werde! Damit war (vorläufig) klar: Ortenberg bleibt selbstständig! Der lange Kampf, die Beharrlichkeit und auch das kommunikative Geschick Littersts hatten sich endlich ausgezahlt. Teufel wies aber auch darauf hin, dass dies noch „top secret“ sei, weil die amtliche Bekanntmachung erst für Anfang März geplant und noch nicht mit allen Gemeinden gesprochen worden sei. Litterst möge diese Information also als streng vertraulich behandeln. Vor dem Hintergrund der immensen Bedeutung und Tragweite der Information, kann dies fast schon als „Ortenbergs erstes Staatsgeheimnis“ bezeichnet werden.
Wenige Tage später, Ende Februar stand die Fasent an. Mit der wichtigen Information von Teufel im Gepäck, konnte Litterst diese und auch den „Johrmärkt“ im „Freien Montenegro“ sprichwörtlich etwas „freier“ feiern.
Jahre später ließ Litterst wissen, dass der anwesende Offenburger OB Heitz und einige Stadträte im Beisein Littersts am Weinstand des städtischen Weinguts St. Andreas bereits auf die bevorstehende Eingemeindung von Montenegro nach Offenburg das Glas erhoben und er – Litterst – ein Possenspiel betreiben musste und das nichtsahnende „Opfer“ mimte. Doch obwohl er vermutlich fast „zu platzen“ drohte, behielt er Nervenstärke und das „Staatsgeheimnis“ für sich.
Und auch tags darauf das alljährliche „Dingeli Essen“ hatte ein stark lokalpolitische Prägung, als Fritz Stigler in seiner Büttenrede von einem „Dingeli-Verwaltungsraum“ sprach oder auch von einem „Minengürtel“, den der Kanalreiniger Heinrich Riedinger mit seinem Jauchefaß um Ortenberg gelegt habe „damit er die Städter von Ortenberg fernhält“. Ob Hermann Litterst das erste Ortenberger „Staatsgeheimnis“ wirklich so gut gehütet hat, wie Teufel es verlangte, mag dahin gestellt bleiben…jedenfalls war die Fasent 1973 für ihn eine sehr glückselige! 😊
Doch
noch sollte die Selbständigkeit Ortenbergs noch nicht „in trockenen Tüchern“
sein. Die Stadt Offenburg ließ im Verlauf des Jahres 1973 nichts unversucht, um
die Landesregierung noch umzustimmen.
Wie im letzten Beitrag erläutert, konnte der junge Ortenberger Bürgermeister, Hermann Litterst, die Fasent 1973 recht unbeschwert feiern. Wusste er doch durch den Anruf von Erwin Teufel, dass Ortenberg in der abschließenden Runde der Zielplanung der Landesregierung als eigenständiger Teilverwaltungsraum ausgewiesen werden solle. Final beschlossen war aber zu diesem Zeitpunkt noch nichts.
Wenige Tage nach dem Anruf aus dem Innenministerium besuchte Bürgermeister Litterst auf Einladung des Landrats Dr. Gamber eine Versammlung der CDU-internen kommunalpolitischen Vereinigung in Stuttgart. Auf dieser Versammlung sprachen Ministerpräsident Hans Filbinger und Innenminister Karl Schiess zu den Teilnehmern. Auch Erwin Teufel war anwesend. Litterst bedankte sich bei Teufel für dessen Einsatz in Sachen „Ortenberg“. Er ließ es sich aber auch nicht nehmen, bei Teufel nachzufragen, ob sich die Lage nicht vielleicht doch noch geändert haben könnte? „Das glaube ich nicht!“, antwortete ihm Teufel. Bei diesem Treffen wurde erneut bekanntgegeben, dass die Veröffentlichung zum Abschluss der Zielplanung am 13. März in Freiburg geplant sei.
„Hat sich der Ortenberger Freiheitskampf gelohnt?“
Das war auch die Frage der Lokalpresse am Tag nach der Verkündung. Litterst hatte das „Staatsgeheimnis“ bis dato niemandem anvertraut. Auch nach Offenburg, wo man von einer Eingemeindung Ortenbergs fest ausging, war noch nichts durchgedrungen. Man könnte fast resümieren, dass die beiden Bürgermeister Litterst und Heitz mit einer gewissen Gelassenheit diesem Datum entgegenblickten. Doch nur einer von beiden sollte auch danach mit derselben Gelassenheit weiterarbeiten können. Tatsächlich fand die Pressekonferenz bereits am 12. März statt und die Gemeinden wurden auch mit Schreiben des Innenministeriums gleichen Datums informiert, so dass die Überraschung bereits am 13. März in den Zeitungen stand.
Die Pressekonferenz in Freiburg wurde recht nüchtern gehalten. Mit Veröffentlichung dieser Zielplanung wurde das Verfahren weitestgehend abgeschlossen. Die Frist für freiwillige Lösungen für die Gemeinden – mit "Hochzeitsgeschenken" und "Morgengaben" - war bereits zum Jahresende 1972 abgelaufen, weshalb nun in manchen Fällen mit „harten Entscheidungen“ in der Zielplanung zu rechnen war. Ortenberg blieb davon verschont. Der Freiheitskampf hatte sich gelohnt! Ortenberg wurde als Teilverwaltungsraum ausgewiesen. Doch war damit schon alles unter Dach und Fach?
Sonderlösung Ortenberg?
Die öffentlichen Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die Lokalpresse nahm hierzu eine eher weniger neutrale Position ein. Zunächst wurden ausschließlich Offenburger Stimmen zitiert. Diese zeigten sich überrascht, empört und bis aufs Tiefste enttäuscht. Während man die geplante Zwangszuordnung der sich bisher ebenso sträubenden Gemeinden Bohlsbach und Windschläg als „so erwartet“ zur Kenntnis nahm, empfand man die „Ausklammerung Ortenbergs als sachlich nicht gerechtfertigt und politisch unmöglich“. Immer wieder wurde Ortenberg als „Sonderlösung“ bezeichnet. Für Offenburgs Umland mag dies so gelten. Betrachtet man hingegen die gesamte Ortenau, war es jedoch keinesfalls so. Fischerbach und Mühlenbach, Ringsheim, Rust oder Seebach sind Beispiele, die ebenfalls weder eingemeindet wurden noch in Gemeindezusammenschlüssen aufgegangen sind. Und landesweit gibt es dutzendfach ähnliche Beispiele. Andererseits sah diese Planung auch noch die Eingemeindungen von Hofstetten zu Haslach, Ohlsbach und Berghaupten zu Gengenbach, Lautenbach zu Oberkirch und Kippenheim zu Lahr vor. Alle diese Gemeinden sollten am Ende ihre Selbständigkeit behalten.
Auch von tiefer Bestürzung bei den sich getäuscht fühlenden Ortsvorstehern, der bisher bereits freiwillig der Stadt Offenburg beigetretenen Gemeinden war die Rede. „Ungehalten“ sei man in Offenburg und in neuen Stadtteilen über diese „Extrawurst“, so die Tagespresse.
Das „Modell Offenburg“ wäre nicht perfekt umgesetzt. Man könne Ortenberg nicht einfach so zwischen eine Kette von Gemeinden, die zu Offenburg gingen, dazwischenschieben. Dies wäre die letzte „Halskrause“ für Offenburg, so war aus dem dortigen Rathaus zu lesen.
Einen Tag später las man im Offenburger Tageblatt
dann auch ein erstes Statement von Bürgermeister Litterst zur „Enklave“
Ortenberg. Niemand habe die anderen geheißen „freiwillig nach Offenburg
zu gehen“. Er selbst habe lediglich den Auftrag seines Gemeinderates ausgeführt und
dieser sei der Überzeugung gewesen, die Aufgaben der Gemeinde könnten auch in einem
Teilverwaltungsraum und im Verbund mit den Nachbarn gut gelöst werden. Für
Offenburg wäre eine Eingliederung Ortenbergs aber lediglich eine
„Bereicherung“, keine Notwendigkeit.
Der Gemeinderat von Ortenberg stimmte in seiner Sitzung am 19. März 1973 erwartungsgemäß dem Zielplanungsentwurf zu. In der Debatte kam erneut der Schulterschluss aller Fraktionen deutlich zum Ausdruck und es wurde auch unterstrichen, dass die Ortenberger Haltung keineswegs allein die Meinung des Bürgermeisters wäre, wie es in der Presse zu lesen war, sondern der Wille des Gemeinderats und der Bürgerschaft. Die Tagespresse berichtete ausführlich. Man stellte fest, dass es in Ortenberg aktuell keinerlei Mangelverhältnisse festzustellen sind und diese auch perspektivisch für die Zukunft nicht zu erwarten sind. Es bestehe keine Notwendigkeit für die Aufgabe der Selbständigkeit.
Die
Marschrichtung des Offenburger Umlands und der Stadt Offenburg war klar zu
erkennen: Der Erhalt der Selbstständigkeit Ortenbergs sollte für die Zukunft
verhindert werden. Die Stadt Offenburg kündigte an alle notwendigen Schritte zu
unternehmen und eine fundierte Stellungnahme abzugeben.
Die Tage und Wochen nach der Verkündung des
Zielplanungsentwurfs am 12. März 1973 lassen
sich aufgrund der sehr breiten Darstellung in der Lokalpresse - die hier nur
auszugsweise widergegeben werden kann - gut nachvollziehen.
Von einer neutralen
Presseberichterstattung kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Auch aus
Bohlsbach und Windschläg, die gemäß der Zielplanung per Zwang eingemeindet
werden sollten, kamen viele kritische Stimmen. Die dortige Bevölkerung forderte
nun dasselbe Recht ein wie für Ortenberg. Dass Bürgermeister Litterst immer
wieder betonte, wie wichtig ihm an einem „freundschaftlichen Nebeneinander“ und
„positiven Miteinander“ gelegen war, schien in den Medien fast unterzugehen.
Der in Zell-Weierbach wohnende CDU-Fraktionsvorsitzende im (vorläufigen) Kreistag und Regionalplaner Dr. Wolfgang Fuchs, sah im „Fall Ortenberg“ einen „Bruch inder gesamten Argumentation zur Zielplanung“. Es wäre aber denkbar schlecht, wenn Ortenberg und Offenburg nun wie zwei Stiere aufeinander losgingen, äußerte er bei einer Wahlveranstaltung für die am 6. April stattfindende Kreistagswahl. Fuchs stellte weiter fest, dass die in Offenburg so gut vorangekommene Reform durch diese „völlige Fehleinschätzung“ aus Stuttgart stark erschüttert worden sei.
Der Ortenberger Ernst Bögle erwiderte die Vorwürfe von Fuchs in einem Leserbrief. Bögle bilanzierte ironisch, dass man beim Durchblättern der Presse in ganz Baden-Württemberg wohl nur ein schwarzes Schaf hätte, nämlich Ortenberg. Er erwiderte gegenüber Fuchs, dass die Gemeinde und ihr Bürgermeister lediglich ihr demokratisches Recht ausgeübt hätten und standhaft geblieben wären. Das könne man schlecht zum Vorwurf machen. Zudem hätten in Stuttgart auch Leute mitgewirkt, die von diesen Reformen etwas verstehen.
Am 29. März erklärte Oberbürgermeister Heitz, Offenburg wolle den Fehltritt der Landesregierung ausbügeln. Wie sehr die Stadt Offenburg bereits die Einverleibung Ortenbergs gedanklich verinnerlicht hatte lässt die Aussage Heitz‘ erahnen, wenn er zitiert wurde, dass die Stadt Offenburg sich mit der "Abtrennung" (!) Ortenbergs niemals einverstanden erklären würde. Man habe nun die notwendigen Schritte unternommen, um den Fauxpas zu revidieren. Er und die CDU-Gemeinderatsfraktion sähen eine Ungleichbehandlung, weshalb die Zielplanung damit rechtlich nicht haltbar sei.
Ob diese öffentliche Kritik an der Entscheidung der Landesregierung taktisch von Vorteil war?
Als Reaktion hierauf schrieb der Ortenberger
CDU-Gemeindeverband einen Brief an Innenminister Karl Schiess, in welchem er
nochmals eindringlich darum bat, die Zielplanung nicht mehr zu ändern. In
Offenburg würde schon hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass die Zielplanung
nochmals gekippt und Ortenberg damit zwangseingemeindet würde.
Auch die Rollen von Staatssekretär Erwin Teufel und MdL Robert Ruder wurden öffentlich hinterfragt. Während einer Pressekonferenz auf den „Sonderfall Ortenberg“ angesprochen, bezeichnete Teufel ihn als „Grenzfall“, über den man nochmal sprechen müsse. Ein klareres Bekenntnis hätte den Kritikern vermutlich etwas Wind aus den Segeln genommen. Allerdings war Teufel gut beraten, sich in der Öffentlichkeit nicht festzulegen, zumal in der Landesregierung noch etliche Fälle beraten werden mussten, sicherlich auch der Fall Ortenberg weshalb die Tagespresse seine Aussagen als „Balanceakt“ bezeichnete. Obwohl Teufel darauf verwies, dass eine günstige Entwicklung Offenburgs auch ohne Ortenberg gesichert sei. Da es am südlichen Oberrhein sogar über 30 Teilverwaltungsräume gäbe, die mitunter kleiner als Ortenberg waren, sei dies insgesamt ein sauberes Verfahren, so Teufel.
Ruder fand sich in einer ungleich schwierigeren Position, war er doch auch in der Öffentlichkeit für die Selbstbestimmung der Gemeinden eingetreten und musste sich nun kritische Fragen durch die Bürger des eingemeindeten Umlands gefallen lassen. In diesem Zusammenhang wurde auch der Versuch unternommen, die Frage zu einer parteipolitischen zu machen und im aktuellen Kreistags-Wahlkampf daraus Kapital zu schlagen. Etwa wurde versucht, die gegensätzliche Positionen besetzenden CDU-Protagonisten gegeneinander auszuspielen. So ließ man im Wege eines Leserbrief-Scharmützels Ruder wissen, die Bürger der Fusionsgemeinden würden von ihm eine klare Stellungnahme erwarten, falls es „zum Schwur“ komme. Ruder erwiderte ebenfalls in einem Leserbrief, dass diese Keiltreiberei nun nichts bringe, zudem sei das Thema Ortenberg in der CDU auf Kreisebene nie ein Thema gewesen.
Bis weit in den April finden sich immer wieder Beiträge in der Tagespresse, in denen die Eingemeindung Ortenbergs weiter als einzig zweckdienliches und sinnvolles Mittel gesehen wird.
Langsam schien sich offenbar die öffentliche Meinung zugunsten Ortenbergs zu drehen.
Die Lahrer Zeitung schrieb gar vom Ortenberger „David“ und vom Offenburger „Goliath“, ein biblischer Vergleich. Litterst wurde hier – im Vergleich zur Offenburger Presse – viel Raum gegeben, seine Sichtweise zu artikulieren. Natürlich wurde Litterst auch mit der Frage, ob andere Gemeinden aus seiner Sicht falsch lagen, der Stadt Offenburg beizutreten*? Litterst antwortete, dass jede Gemeinde demokratisch entscheiden könne, was sie wolle. Die Gemeinde Ortenberg wachse rapide, alle grundlegenden Elemente der Daseinsvorsorge seien vorhanden, zudem sei Ortenberg für die Industrie und das Gewerbe interessant, weil die Gewerbesteuer niedriger sei als in Offenburg.
Nach Aktenlage soll aber selbst von Offenburger Stadträten eingeräumt werden, dass die Frage der Eingemeindung Ortenbergs lediglich eine Prestigefrage sei und eine Abrundung der Stadt auf der Karte darstelle.
Litterst zitierte dazu auf einer kommunalpolitischen Veranstaltung im Gasthaus Ochsen Innenminister Schiess, wonach Gebietsabrundungen nicht Ziel der Verwaltungsreform wären.
Ein paar Restzweifel müssen Litterst aber doch geplagt haben: In einer Sondersitzung des Offenburger Gemeinderats am 13. April wurde zur „überraschenden Kehrtwendung der Landesregierung“ Stellung bezogen und einstimmig beschlossen, die Ausweisung Ortenbergs als Teilverwaltungsraum abzulehnen und im Ergebnis also für dessen Eingemeindung votiert. Einen Tag später bereichtete die Lokalpresse ausgiebig darüber. Auch wurde festgestellt, dass die "Enklave Ortenberg" "auf Dauer niemals Bestand" haben könne. Gleichzeitig wurde im Gemeinderat gegenüber der Stadtverwaltung gefordert, alles zu unterlassen, was eine Polarisierung Offenburg/Ortenberg hervorrufen könnte und eine spätere Eingemeindung (!) stören würde.
Man musste also davon ausgehen, dass die Stadt Offenburg noch lange nicht locker lassen würde.
Vermutlich hierdurch bewegt, schrieb Litterst an Ruder am 17. April einen Brief, in dem er sich einerseits für Ruders Anstrengungen in Sachen Ortenberg bedankte, andererseits aber auch einen Termin direkt bei Innenminister Schiess anfragte. Tags darauf sendete er ebenfalls einen Brief an Teufel mit der Bitte um einen Termin, damit das weitere Vorgehen geplant werden könne. Er hoffe, dass in der Zielplanung nun nicht nach dem „Recht des Stärkeren“ verfahren werde. Wiederum nur wenige Tage danach, am 25. April, schrieb Litterst dann direkt an den Innenminister mit der Bitte in seiner Sache nochmals vorsprechen zu dürfen, denn er habe vernommen, dass OB Heitz wegen der Sache Ortenberg ebenfalls in Stuttgart vorstellig werden wolle. Es sei nur fair, wenn auch er als Bürgermeister der Gemeinde dann die Chance dazu bekäme.
Der Frühling 1973 brachte also nochmals unerwartete Spannung. Offenburg schien auf medialer und politischer Ebene nichts unversucht zu lassen, um gegen die Selbstständigkeit Ortenbergs vorzugehen. In der Rückschau betrachtet muss man aber feststellen, dass man sich auf Ortenberger Seite trotz teilweiser provozierender Äußerungen und Darstellungen etwa in der Presse, nicht zu unbedachten Reaktionen hinreißen ließ, stets auf dem Boden der Sachlichkeit geblieben ist und mit Blick auf die Zukunft jegliche Kooperationsbereitschaft signalisierte.
Historisch betrachtet, war es übrigens nicht das erste Mal, dass die Eingemeindung Ortenbergs zur Debatte stand. Doch dazu mehr im nächsten Beitrag.
Im Laufe des April 1973 ließ das öffentliche Interesse und die Aufregung um die geplante Beibehaltung der Selbständigkeit Ortenbergs nach. Doch hinter den Kulissen wurde kräftig gearbeitet.
Wir setzen die Beitragsreihe Mitte Mai fort. Zunächst wollen wir aber noch einen Blick zurück in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts werfen, denn bereits damals wurden in Offenburg Begehrlichkeiten in Richtung Ortenberg formuliert:
Eingemeindungen sind keine Erfindung der Gemeindereform der 1970er Jahre. Gemeindeübernahmen und –zusammenschlüsse gab es schon in historischen Zeiten. Und auch nachdem die „Gemeinde“ mit der badischen Gemeindeordnung von 1832 den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft mit Selbstverwaltungsgarantie erlangte - und damit verfassungsrechtlich garantiert als juristische Person anerkannt war-, wurden immer wieder einzelne Gemeinden eingemeindet. Beispiele in der Region sind Burkheim (1899) und Dinglingen (1935) zu Lahr oder Wolfhag (1837), Fernach (1872) und Gaisbach (1936) zu Oberkirch.
Auch in Offenburg machte man sich Gedanken, wohl auch getrieben von der Notwendigkeit, Raum für die Siedlungserweiterung zu finden. Denn in der Zeit des enormen Wirtschaftsaufschwungs der liberalen badischen Ära nach 1860 und im darauffolgenden Boom des Kaiserreichs wuchs deren Einwohnerzahl um das Vierfache an. Auch die Industrieansiedelungen und sonstige Gewerbebetriebe haben deutlich zugenommen: 1861 gab es ca. 60 Industriearbeitsplätze in Offenburg, 1925 mehr als 2.500! Viele Ortenberger fanden Lohn und Brot in Offenburg, insbesondere auch bei Bahn und Post.
Aus Offenburger Sicht folgerichtig machte man sich daher Gedanken über eine Eingemeindung: 1926 verfasste Stadtrat Georg Monsch ein Diskussionspapier, das die Entwicklungslinie der Stadt in Richtung Ortenberg sah. Im Wege einer Vereinigung käme so auch die nach Ortenberg „geflüchtete“ Glasplakatefabrik Boos & Hahn wieder unter Offenburger Fittiche, eine dauerhaft einzurichtende Schlossbeleuchtung wurde ins Spiel gebracht und mit dem Erwerb des „heute verkäuflichen“ Schlossbesitzes geliebäugelt (D’r altOffeburger, 25. Juli 1926).
Im Gemeindearchiv findet sich jedoch kein Nachweis über eine Ortenberger Reaktion auf dieses Gedankenspiel.
Konkreter wurde es dann einige Jahre später: Das Bezirksamt (heute Landratsamt) forderte die Gemeinde Ortenberg Ende Juli 1935 auf, zur Frage einer Vereinigung mit der Stadt Offenburg Stellung zu nehmen. Bereits fünf Tage später wurde dies im Gemeinderat behandelt. Die Antwort war knapp aber unmissverständlich:
„Die Gemeinde ist … nicht bereit, sich mit der Stadt Offenburg zu vereinigen.“ Versehen mit dem seinerzeit üblichen Gruß ging ein inhaltsgleiches Schreiben auch an den Kreisleiter der NSDAP und Oberbürgermeister der Stadt Offenburg.
Die Ortenberger waren sich also einig, dass ihr Dorf trotz einer expandierenden Stadt Offenburg eine Zukunft hat. Doch dass man sich diesem Sog in der Zeit des rapiden Wandels der sozialen Strukturen in der Nachkriegszeit nicht mehr so einfach entziehen und das Thema mit einem einzigen Satz wegwischen konnte, sollte die Gemeindereform 35 Jahre später zeigen.
Am Muttertag vor 50 Jahren stand der junge Ortenberger Bürgermeister Hermann Litterst immer noch etwas unter Strom: Die Medienlandschaft berichtete nach wie vor über die Zielplanung und es schien ein wenig der Unterton mitzuschwingen, dass man mit der selbstständigen Zukunft Ortenbergs nicht ganz einherging. Zwar lassen Zeitzeugenberichte vermuten, dass sich zumindest der Offenburger Gemeinderat damit abgefunden hatte, so ganz sicher war sich Litterst aber nicht. Aus diesem Grund hatte er bereits Ende April 1973 einen Termin bei Innenminister Schiess angefragt, da er mitbekommen hatte, dass auch der Offenburger Oberbürgermeister Heitz bei jenem vorgesprochen habe. Ihm stehe schließlich dasselbe Recht zu.
Nur wenige Tage zuvor hatte Litterst bereits mit dem Vorsitzenden des Verwaltungsreform-Ausschusses im Landtag, Erwin Gomeringer, postalisch Kontakt aufgenommen. Gomeringer war selbst Bürgermeister der Kleinstadt Meßstetten im Zollernalbkreis und der dortige Landtagsabgeordnete der CDU. Litterst berichtete ihm von seinen Sorgen, der Medienkampagne und erbat sich ein Gespräch über die Zielplanung. Kurz darauf antwortete ihm Gomeringer, dass sie sich in Kehl auf dem Messdi treffen könnten, doch aus dieser Verabredung wurde nichts. Da es Litterst ein besonderes Anliegen war, mit Gomeringer als „Chef“ des Ausschusses das Thema der Ortenberger Selbständigkeit zu besprechen, avisierten die beiden einen Termin just am Muttertag 1973. So machte Litterst sich frühmorgens mit seinem blauen BMW 1800 Touring durch den Schwarzwald auf ins damals fast drei Autostunden entfernte Meßststetten – nach dessen eigenen Aussagen nach einem feuchtfröhlichen Abend etwas verkatert und nach einer Kanne starken Kaffees.
Gomeringer empfing Litterst im Meßstettener Rathaus und lauschte dessen Ausführungen, der neben den sachlichen Argumenten, die für eine Selbständigkeit Ortenbergs sprachen, auch die „Schmutzkampagne“ in den Medien und das Verhalten des Offenburger Oberbürgermeisters betonte. Gomeringer pflichtete ihm den Angaben zufolge bei, indem er feststellte, dass Heitz sich wohl als „Herr der Ortenau“ sehe. Zudem sicherte er Litterst seine volle Unterstützung zu und legte ihm nahe, dass Litterst beim Landtagsabgeordneten Ruder darauf hinwirken solle, im Landtag auf keinen Fall einen Antrag auf Aufhebung des in der Zielplanung ausgewiesenen Teilverwaltungsraums Ortenberg zu stellen
Litterst muss sich mit recht großer Zuversicht auf den Rückweg nach Ortenberg gemacht haben. Nur wenige Wochen nach diesem Treffen standen der Abschluss und die Finalisierung der Zielplanung an. Das „Timing“ war also erneut gut gewählt, da Gomeringer als Vorsitzender des Reform-Ausschusses natürlich ein sehr wichtiger Akteur war, den Litterst mit den notwendigen Informationen versah. Der persönliche Besuch bei ihm in Meßstetten verdeutlicht erneut das hohe individuelle Engagement, das der junge Ortenberger Bürgermeister aufwies, um sich für den Erhalt der kommunalen Selbständigkeit einzusetzen. Dafür opferte Litterst dann auch mal den Sonntag… selbst wenn dieser auf den Muttertag fiel.
Wie im letzten Beitrag („Der etwas andere Muttertag“) erläutert, war Bürgermeister Hermann Litterst am Muttertag 1973 in Schwäbische nach Meßstetten gefahren, um dort beim Abgeordneten Erwin Gomeringer erneut die eindeutige Haltung des Ortenberger Gemeinderates und der Bevölkerung in der Frage des Erhalts der kommunalen Selbständigkeit zu untermauern. Gomeringer hatte ihm dessen Unterstützung zugesichert – besonders seine Äußerungen zum Verhalten des Offenburger Oberbürgermeisters („Heitz fühlt sich anscheinend wie der Herr der Ortenau“) machten bei Litterst Eindruck. Er konnte guten Mutes aus Meßstetten die lange Heimreise antreten.
Nun stand ein sprichwörtlich „heißer Sommer“ vor der Tür. Auf Bundesebene wurde dieser dominiert durch die Ratifizierung des Grundlagenvertrages mit der DDR. Ein weiterer Meilenstein in Willy Brandts Ostpolitik, der zum Beispiel den kleinen Grenzverkehr an der Mauer wieder öffnete. Auf landespolitischer Ebene wurde in Baden-Württemberg sehr dem Abschluss der Zielplanung der Gemeindereform entgegengefiebert.
Der Juni war sonnig, warm und trocken. Die Niederschlagsmenge lag extrem unter dem langjährigen Mittel. Auch der geschäftigste Bürgermeister braucht einmal eine Auszeit der Erholung und Regeneration. Deshalb nutzte Hermann Litterst das schöne Wetter aus und fuhr Ende Juni für ein paar freie Tage nach Überlingen an den Bodensee.
Was er nicht ahnen konnte war, dass zwischenzeitlich ein Schreiben des Staatssekretärs Erwin Teufel in Ortenberg auf dem Rathaus eingegangen war. In diesem Brief schrieb Erwin Teufel an Bürgermeister Litterst, dass "ich Ihr Anliegen immer im Auge behalten habe.“ Deshalb sei im Kabinett in der letzten Sitzung der Teilverwaltungsraum Ortenberg final besprochen worden und verbindlich in die Zielplanung eingegangen. Aufgrund der Arbeitsüberlastung sei es Teufel aber leider nicht möglich gewesen, Litterst früher diese frohe Botschaft zu verkünden. Nun war also die Nachricht da, die bedeutete, dass Ortenberg seine Selbständigkeit behalten sollte, aber der Bürgermeister ausgerechnet jetzt im Urlaub? Das konnte ja fast nicht sein? Ausgerechnet jetzt, wo die wichtigste Mitteilung seiner Dienstzeit ins Haus flatterte, war Litterst mal nicht im Büro, sondern erholte sich von den ganzen Strapazen.
Wieder zurück in Ortenberg fasste Litterst das Geschehen der vergangenen Tage in einer Aktennotiz vom 3. Juli 1973 nochmals zusammen. Er habe in Überlingen geweilt, wo ihn im Hotel ein Anruf aus Ortenberg erreichte. Ihm wurde mitgeteilt, dass sowohl MdL Robert Ruder fernmündlich „live“ aus der Ausschuss-Sitzung heraus und einen Tag später Erwin Teufel mitteilten, dass Ortenberg final als Teilverwaltungsraum bestätigt wurde! Die frohe Botschaft hat Litterst also doch noch zeitnah persönlich erreicht! All die Mühen, all der Stress und all die vielen schlaflosen Nächte hatten sich gelohnt! Ob Litterst vor lauter Freude spontan zur Abkühlung in den Bodensee tauchte, ist nicht überliefert, es wäre jedenfalls verständlich gewesen… es ist aber anzunehmen, dass er sich aber ein Gläschen „Bodensee-Müller“ gönnte.
Die Tagespresse hatte bereits am Samstag, dem 30. Juni getitelt, dass die „Zielplanung unverändert“ bleiben würde, was gleichbedeutend mit dem Erhalt der Selbstständigkeit Ortenbergs war. Einige Tage später erreichte Litterst ein Schreiben aus dem Innenministerium. Innenminister Karl Schiess ließ dem Bürgermeister mitteilen, dass dessen Wunsch nach einem Treffen überflüssig geworden sei, da Ortenberg nun final als Teilverwaltungsraum ausgewiesen wurde.
Das Verfahren schien also so gut wie abgeschlossen. Es fehlte nur noch die Ausarbeitung zum Abschlussgesetz der Reform. Emotional aber sollte der Sommer in den kommenden Wochen nochmal richtig heiß werden. Denn Offenburgs Oberbürgermeister Heitz wollte nichts unversucht lassen, um bei den Entscheidern in Stuttgart doch noch ein Umdenken in Sachen Ortenberg zu bewirken. Dabei sollte er sogar „Bomben gegen Ortenberg“ legen…doch dazu mehr im nächsten Beitrag.
Obwohl die Zielplanung der Landesregierung weitestgehend abgeschlossen war, sollte der Sommer 1973 in Sachen Gemeindereform nochmals richtig heiß werden. Ortenberg war in der letzten Juniwoche in einem Kabinettsbeschluss der Landesregierung erneut als selbstständiger Teilverwaltungsraum – was gleichbedeutend mit dem Erhalt der Selbständig war - bestätigt worden und Bürgermeister Litterst konnte Anfang Juli vermutlich gut erholt aus seinem Kurzurlaub am Bodensee heimkehren. Die Gefühlslage in der Gemeinde muss außerordentlich positiv gewesen sein. Und neben dem Anruf aus Stuttgart folgte bereits tags drauf am 30. Juni die nächste sensationelle Nachricht: Mit Ursula Harter (heute Graf) wurde die erste und bis heute einzige Ortenbergerin im historischen Freiburger Kaufhaussaal zur badischen Weinkönigin gewählt!
Die Wahl einer Ortenbergerin zur badischen Weinkönigin muss in der Gemeinde wie ein Katalysator fürs Selbstbewusstsein gewirkt haben. Denn dass die höchste Repräsentantin des badischen Weins aus den eigenen Reihen kam, das war für Ortenberg schon eine Sensation. Vor allem auch deshalb, weil die Hoheiten nicht nur den badischen Wein, sondern auch ihre Heimatgemeinde als Botschafterinnen würdig vertreten. Ortenberg war also durch Ursula Harter landes- und bundesweit auf etlichen gesellschaftlichen Events vertreten. Man war nun wer!
Wie die Wahl Harters zur Weinkönigin und ihre „Residenz“ in Ortenberg von Offenburger Seite aufgefasst wurde, beschreibt die Glosse des Badischen Tageblatts mit „Micki der Redaktionsmaus“ vom 14. Juli sehr anschaulich. Denn dort wurde süffisant angemerkt, dass „jener, eingemeindungsfreudige Offenburger, der angesichts der Residenz der badischen Weinkönigin in den neidvollen Ruf ausbrach: Das hat Ortenberg gerade noch gefehlt“ Ob die Aussage von „Micki“ in der Glosse frei erfunden ist oder nicht, wird wissenschaftlich kaum aufzulösen sein. Man kann sie aber trotzdem als ein sinnbildliches Memorandum der politischen Stimmungslage werten. Sie legt zumindest die Vermutung nahe, dass manchem Offenburger die vielen guten Nachrichten für Ortenberg weniger gut schmeckten als der der Gewürztraminer von dort…
So verrät eine Aktennotiz von Bürgermeister Litterst, dass der Ministerpräsident Hans Filbinger am 17. Juli anlässlich einer Veranstaltung im Kreisschulzentrum in Offenburg war. Auch Litterst selbst war anwesend. Zu Beginn der Veranstaltung sei der Fraktionsvorsitzende der CDU im neuen Ortenauer Kreistag, Rechtsanwalt Hoferer auf ihn zugekommen und habe ihn davor gewarnt, dass vom Offenburger Oberbürgermeister Heitz im Laufe des Tages „Bomben gegen Ortenberg“ gelegt worden seien. Heitz habe ihn erneut auf das Verlangen nach der Eingemeindung Ortenbergs hingewiesen und wolle hierbei auch auf den Einfluss von Senator Burda bauen.
Senator Burda also, der weltberühmte Offenburger Verleger, sollte es nun für Heitz richten? In einem Zeitzeugen-Interview berichtete Litterst davon, dass es wohl der Plan von Heitz gewesen sein soll Burda in der anschließenden Busfahrt durch den Ortenaukreis neben Filbinger zu platzieren. Dort sollte der Senator sich dann während der Fahrt mit dem Ministerpräsidenten über das Thema der Eingemeindung Ortenbergs unterhalten.
Litterst war es selbst nicht möglich, bei dieser Fahrt dabei zu sein. Deshalb sprach er noch im Kreisschulzentrum MdL Robert Ruder darauf an und dieser versicherte Litterst, dass er bei Filbinger vorstellig werde und ihn über das Vorgehen von Heitz informiere. Ruder gelang dann ein genialer Schachzug: Er setzte sich nämlich im Bus direkt hinter Burda und Filbinger. Bei der Fahrt soll er Filbinger auf das idyllische Panorama des Ortenberger Schlosses hingewiesen haben und wie großartig doch diese Gemeinde prosperiere. Filbinger stimmte Ruder zu, der Senator war damit wortlos entwaffnet und Ruder hatte „die Bomben entschärft“ bevor es brenzlig werden konnte. Der vermeintliche Plan von OB Heitz war damit perdu…Es ist anzunehmen, dass der Ministerpräsident einige edle Tropfen aus Ortenberg – nämlich vom kreiseigenen Weinbauversuchsgut Schloss Ortenberg – mit nach Stuttgart nahm. Jedenfalls aber verließ er die Ortenau Ortenberg betreffend mit einem festen Entschluss, der kurz darauf in Stuttgart folgen sollte…
Am 17. Juli 1973 verließ Ministerpräsident Hans Filbinger die Ortenau wohl mit einem klaren Entschluss Ortenberg betreffend. Ob es nun am Ortenberger Wein, dem „Bombenentschärfer“ Robert Ruder oder Filbingers eigenen Eindrücken lag, kann man heute in der Rückschau nur mutmaßen.
Wiederum war aus Ortenberger Perspektive das Timing dieses Events perfekt. Denn kurz darauf, am 19. Juli, verhandelte die Landesregierung letztmalig die Zielplanung zur Gemeindereform, bevor diese dann in das parlamentarische Verfahren in den Landtag gegeben wurde. Und tatsächlich sollte es noch einmal spannend werden. Bürgermeister Litterst hält in einer Aktennotiz vom 20. Juli den Inhalt eines Telefonats mit dem Innenministerium fest, in welchem die Sekretärin von Staatssekretär Erwin Teufel ihm mitteilte, dass das Kabinett nochmals den Teilverwaltungsraum Ortenberg besprochen habe. Litterst muss wohl fast der Hörer aus der Hand gefallen sein, als er dies vernahm, denn die Sekretärin verwies auf den Vorstoß des Offenburger Oberbürgermeisters Heitz zusammen mit Senator Burda. War nun doch alles umsonst? Hatten Heitz und der mächtige Verleger es also doch noch umbiegen können, was Teufel ihm nur wenige Wochen zuvor noch schriftlich zugesagt hatte? Auch wenn das Telefonat vermutlich nur sehr kurz war, muss es sich nach dieser Nachricht für Litterst wohl wie eine emotionale Achterbahnfahrt angefühlt haben. Doch es sollte ein gutes Ende nehmen, da die Sekretärin Teufels ihn darüber in Kenntnis setzte, dass das Kabinett an der ursprünglichen Konzeption festhalte und die Zielplanung für verbindlich erklärte. Das bedeutete also final, dass Ortenberg im Gesetzesentwurf als selbstständiger Teilverwaltungsraum ausgewiesen werden sollte. Ob Jubelschreie durchs Rathaus gingen, ist nicht überliefert. Erleichterung, Freude und vielleicht auch ein wenig Genugtuung bestätigte Litterst aber in einem Zeitzeugeninterview.
Am 20. Juli versandte der Landtags-Ausschuss für die Verwaltungsreform die Stellungnahmen zu den verschiedenen Anträgen der Gemeinden. Ausschussvorsitzender war eben jener Amtskollege, der Hermann Litterst wenige Wochen zuvor, am Muttertag zu einem Aussprache-Termin empfangen hatte, der Meßstettener Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Erwin Gomeringer. Wie in einem vorigen Beitrag erwähnt, hatte auch die Stadt Offenburg Ende März 1973 eine Art formlosen Widerspruch gegen die Zielplanung in Stuttgart eingereicht. Dieser findet in keiner Zeile der Drucksache Erwähnung, was darauf schließen lässt – zumindest im Vergleich mit den anderen behandelten Eingaben der übrigen Gemeinden – dass ihm nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Und so titelte dann die Tagespresse am 21. Juli: „Es ist entschieden: Ortenberg bleibt selbstständig“.
In einer Pressekonferenz habe Innenminister Karl Schiess die Grundsätze zur Lösung des Stadt-Umland-Problems erläutert. Ministerialdirigent Dr. Füsslin erklärte der Presse die „umstrittene Frage des Teilverwaltungsraumes Ortenberg im Modell Offenburg“. Ein prominentes weiteres Beispiel, das als Teilverwaltungsraum neben einer „Großstadt“ selbstständig blieb, war Kippenheim bei Lahr. Innenminister Schiess betonte immer wieder, wie wichtig vor allem die Nachbarschaftsverbände seien sowie die Zusammenarbeit in einer Verwaltungsgemeinschaft zwischen Stadt und Umland. Die Grundsätze der Landesregierung hätte eine “kombinierte Lösung“ vorgesehen. Die Nachbarschaftsverbände würden in Zukunft die Flächennutzungspläne übertragen bekommen, um gemeinschaftlich daran arbeiten zu können. Eine weitere Aufgabe der Verbände sei es, die verbindliche Bauleitplanung anzugehen, um Entwicklungsaufgaben im Siedlungsbau wahrnehmen zu können. Wichtig sei aber insgesamt eine gerechte Lastenverteilung. Über Ortenberg verlor der Innenminister in diesem Gespräch kein Wort.
War dies etwa schon alles, was an medialem Echo auf die Entscheidungen des Kabinetts folgen sollte? Mitnichten! Am 25. Juli folgte ein Leitartikel, der es allein schon im Titel „Teufels Beitrag“ in sich hatte. Im Artikel nennt Ministerpräsident Filbinger die Reform mutig. Der Autor entgegnet, dass aus Offenburger Perspektive hierfür die Glaubwürdigkeit fehle, wenn doch Bohlsbach und Windschläg zwangseingemeindet werden sollten und Ortenberg nicht. Zudem habe die Regierung der Mut verlassen, es sei also gar keine mutige Reform, da es um die Freiwilligkeit ging und Ortenberg habe „starke Fürsprecher“ in Stuttgart gehabt.
Sachlich nüchtern kann man heute feststellen, dass die Aussagen des Artikels etwas widersprüchlich erscheinen. Denn wenn man der Regierung einerseits vorwirft, dass sie mutlos agierte und die Freiwilligkeit der Gemeinden in den Vordergrund stellte, und andererseits dann unerwähnt lässt oder gar verkennt, dass Ortenberg genau auf diese Freiwilligkeit setzte, nämlich eine Freiwilligkeit zur Selbstständigkeit, so lässt sich doch auf der Sachebene ein Widerspruch darin erkennen: Einerseits die Freiwilligkeit betonen, andererseits dann dieser keine Bedeutung zukommen lassen, dort wo es gerade politisch nicht opportun ist.
Der Artikel bleibt ebenso schuldig, wer die „starken Fürsprecher“ in Stuttgart waren. Die reißerische Überschrift lässt aber vermuten, wer gemeint sein könnte. Möglicherweise lag es aber auch einfach an der Beharrlichkeit und Standhaftigkeit der Gemeindebevölkerung, gepaart dem Engagement und dem Kommunikationsgeschick von Bürgermeister Litterst, der wohl nicht mehr als einen – wie OB Heitz diesen im Dezember 1971 bezeichnete - „Hinterbänkler“ brauchte, um die Erhaltung der kommunalen Selbstständigkeit Ortenbergs final zu sichern. Der Sommer 1973 war wie dieser, 50 Jahre später im Jahr 2023, eben ein sehr heißer gewesen…
Doch es sollte sich noch zeigen, dass nichts als gesichert angesehen werden konnte, solange nicht das Gemeindereformgesetz im Landtag verabschiedet war.
Dass Ortenberg als Teilverwaltungsraum seine Selbständigkeit behalten würde, kündigte die Landesregierung Ende Juli 1973 an, was in der regionalen Presse u.a. als „Teufels-Werk“ bezeichnet wurde. Der mediale Druck ließ auch nach dem „heißen Sommer“ 1973 im Herbst nicht nach. Am 18. September veröffentlichte die Landesregierung einen ersten Entwurf über das Abschlussgesetz zur Gemeindereform. Darauf folgte nochmals eine Reihe an Beiträgen in der Lokalpresse, die das Thema des „Zusammenwachsens“ von Ortenberg und Offenburg thematisierten. Der Unterton bzw. die zitierten Stimmen lassen erneut darauf schließen, dass von Offenburger Seite die Eingemeindung gewünscht, bisweilen sogar erwartet worden wäre. Die Stadt hatte aber nicht nur von Süden her Druck, denn auch im Norden gab es mit Bohlsbach eine Gemeinde, die denselben Weg einschlagen wollte wie Ortenberg. Der „Speckgürtel“ rund um Offenburg wäre also nicht geschlossen, die Expansionsmöglichkeiten begrenzt. Auch in Bohlsbach versuchte es die Stadt noch mit letzten „Hochzeitsgeschenken“, die eigentlich gar nicht mehr möglich waren. Diese wurden aber vom Gemeinderat abgelehnt. In Bohlsbach war der Tenor „was für Ortenberg geht, muss für Bohlsbach auch gehen“. Die Meinung der dortigen Bürgerschaft war also klar.
Vermutlich auch aufgrund des Rumorens rund um Offenburg – andere Gemeinden waren bekanntlich über den Ortenberger Sonderweg nicht glücklich – bat die Lokalpresse den Staatssekretär des Innenministerium, Erwin Teufel, zu einem Interview. Teufel wurde um Stellungnahme zur Eingemeindungs-Thematik gebeten. Zunächst gab er zu verstehen, dass die Meinung der Offenburger CDU nicht deckungsgleich sei mit den Positionen des CDU-Kreisverbandes und der Landes-CDU waren. Denn der Kreisverband, mit MdL Robert Ruder, vertrat klar die Meinung, dass Ortenberg selbstständig bleiben könne. Auf die konkrete Frage des Reporters, warum Ortenberg nicht eingemeindet werden sollte, antwortete Teufel: „Freiwilligkeit geht eben in beiden Richtungen!“ Damit sprach Teufel aus, was vielen Ortenbergern schon lange ein Anliegen war. Denn zu keinem Zeitpunkt in diesem gesamten Verfahren war eine Eingemeindung seitens der Bevölkerung gewollt. Teufel betonte, dass sich Ortenberg eben nicht für einen freiwilligen Beitritt, sondern für eine freiwillige Selbstständigkeit, und damit auch Selbstverantwortung, entschieden habe. Zudem stelle sich die Frage, wie auch in anderen Orten, ob Offenburg denn Ortenberg überhaupt benötigte. Allein sich auf die bauliche Entwicklung der Gemeinde zur Stadt hin zu berufen und daraus einen Anspruch auf Eingemeindung abzuleiten, sei falsch und dies sei auch im Kabinett so festgelegt worden. Zudem erfülle Ortenberg alle Voraussetzungen für einen Teilverwaltungsraum und man könne der Gemeinde und ihrem Bürgermeister nun mal schlecht vorwerfen, dass sie ihren Wunsch nach Selbstständigkeit klar artikuliert haben. Einen Beitritt zur Stadt Offenburg habe die Gemeinde freiwillig abgelehnt. Die Frage, ob Offenburg Ortenberg benötige, sei im Kabinett negativ beschieden worden. Damit war verwaltungstechnisch klar, dass Ortenberg eigenständig bleiben könne. Teufel betonte auch nochmals deutlich, dass nur weil Ortenberg nun kein Stadtteil würde, Offenburg deshalb nicht schlechter gestellt worden sei, als andere Städte auch. Sachlich nüchtern konstatierte Teufel zum Abschluss, dass die Meinung der Offenburger CDU eine andere sei, als die des restlichen CDU Kreisverbands.
Teufels öffentliches Bekenntnis zur Selbstständigkeit Ortenbergs war eines der wenigen dieser Art. Dass sich ein Politiker diesen Ranges medial so klar positionierte und Stellung bezog, besaß eher Seltenheitswert. Gleichzeitig war es ein unausgesprochenes Statement in zwei Richtungen: einerseits an die Gemeinde Ortenberg, dass sie sich keine Sorgen um den Status machen musste – andererseits in Richtung Offenburg, doch bitte von (lancierten) Medienkampagnen und öffentlichen Forderungen Abstand zu nehmen.
Am 15. November 1973 trat die Gemeindereform in ihr letztes Stadium ein, als der Ministerrat der Landesregierung den Eintwurf für das Schlussgesetz billigte und diesen zur Abstimmung in den Landtag gab.
Im Januar 1974 fanden noch letzte Bürgeranhörungen im gesamten Land statt, doch in Ortenberg wurde dies als nicht notwendig erachtet.
Es war aber noch lange nicht ruhig. Eine Selbstständigkeit Ortenbergs wertete man in Offenburg als eine „eklatante Fehlentscheidung“. Am 16. Januar 1974 las man in der landeweit erscheinenden Stuttgarter Zeitung (!) die Schlagzeile: „Landbürgermeister trickst Ratsherren aus“. Darin wird berichtet, wie sich „der ganze Zorn der Offenburger Kommunalpolitiker, von einem Landbürgermeister ausgetrickst worden zu sein entlud“, weil es Litterst gelang, unter Mithilfe von Robert Ruder, Ortenberg als Teilverwaltungsraum durchsetzen zu können, was dem Erhalt der juristischen Selbständigkeit entsprach.
Mitte Februar wurde der „Entwurf eines Gesetzes über eine Reform der Gemeinden in der Region südlicher Oberrhein“ erarbeitet der unter Paragraf 38 den Verwaltungsraum Offenburg aus der Stadt Offenburg und den Gemeinden Durbach, Hohberg, Ortenberg und Schutterwald definierte.
In der Gesetzesbegründung heißt es zu §38, wo es zunächst um Bohlsbach und Windschläg geht, die sich neben der Stadt Offenburg als eigenständige Gemeinwesen nicht würden behaupten können:“… Für die ebenfalls zum Nahbereich der Stadt Offenburg zählende Gemeinde Ortenberg trifft diese Feststellung nicht zu. Die Gemeinde ist vom Stadtkern der Stadt Offenburg deutlich abgesetzt, hat erheblich mehr Einwohner als die genannten Gemeinden und als Weinbauort eine besondere Struktur. Die Gemeinde liegt in einem Landschaftsbereich, dem für die künftige Entwicklung der Stadt Offenburg, insbesondere im gewerblichen-industriellen Sektor, keine besondere Bedeutung zukommt“.
Damit war klar, wenn das Gesetz so den Landtag passiert, bleibt Ortenberg selbständig. Die Behandlung im Landtag sollte im Juli 1974 stattfinden.
Am 1. Juni hielt der Ortenberger Gemeinderat anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes eine Sondersitzung ab, in der sowohl der Bürgermeister als auch die Gemeinderäte in ihren Reden auf die freiheitlich demokratische Grundordnung hinwiesen. Am 11. Juni stimmt der Offenburger Gemeinderat bei Enthaltungen aller sechs SPD-Stadträte für die Verwaltungsgemeinschaft. Es wurde allerdings auch die Frage aufgebracht, wie diese Verwaltungsgemeinschaft funktionieren solle, wenn es andauernd zu Reibereien kommen könne.
Dass es aber auch in einem friedlichen Miteinander geht, zeigte der 19. Juni 1974, an dem der Vertrag über die Bildung der vereinbarten Verwaltungsgemeinschaft mit Offenburg, Schutterwald, Hohberg, Durbach und Ortenberg feierlich unterzeichnet wurde. Die anschließende Schlagzeile im Badischen Tageblatt, dass nun der „Siebenjährige Krieg“ zu Ende gehe, erscheint brachial in der Wortwahl. Umsichtig hingegen äußerte sich der dem Akt beiwohnende Regierungspräsident Dr. Hermann Person, dass nun Ruhe endlich heilsam sein möge.
Am 3. Juli 1974 wurde dann zunächst das „Dritte Gesetz zur Verwaltungsreform (Allgemeines Gemeindereformgesetz)“ beschlossen. SPD und FDP stimmten geschlossen dagegen. In Teil I Abschnitt 1 §1 findet sich das „Gesetz zum Abschluß der Neuordnung der Gemeinden (Besonderes Gemeindereformgesetz)“ Dies galt mit Wirkung ab dem 1. Januar 1975. Darin wurden die Rechtsverhältnisse neuer, aus Zusammenschlüssen entstehender Gemeinden (z.B. Hohberg) und die Eingliederung von Gemeinden in andere Gemeinden geregelt. Zugleich erhielten mit Wirkung vom 1. Juli 1975 die Verwaltungsgemeinschaften ihre juristische Legitimierung.
Am 4. Juli 1974 schließlich wurde das „Gesetz zum Abschluß der Neuordnung der Gemeinden (Besonderes Gemeindereformgesetz)“ im Landtag beschlossen. Es bestimmt für die einzelnen Regionen, welche Gemeinden neu gebildet oder eingegliedert werden, sowie die Bildung von Gemeindeverwaltungsverbänden.
Es enthält für den Verwaltungsraum Gengenbach nur die Eingliederung von Reichenbach nach Gengenbach (§ 156) und der den Verwaltungsraum Offenburg betreffende § 159 lautet:
„Die Gemeinde Windschläg wird in die Stadt Offenburg eingegliedert“.
Ortenberg wurde nicht erwähnt. Damit war endgültig besiegelt: Wir bleiben selbständig!
Wie im Falle Windschläg oder Reichenbach wurden landesweit etwa 60 weitere Gemeinden zwangseingemeindet, etwa 70 Gemeinden wurden per Gesetz neu gebildet. Insgesamt erfassten diese gesetzlichen Regelungen etwa 250 Gemeinden. Hier kam es mitunter auch zu Klagen einzelner Gemeinden beim Staatsgerichtshof, die dort aber überwiegend abgelehnt wurden.
Im Offenburger Umland hatten sich final lediglich vier unverändert gebliebene Gemeinden als Teilverwaltungsraum durchgesetzt: Schutterwald, Ohlsbach, Berghaupten und Ortenberg.
Der Reform-Marathon war damit beendet – Ortenberg blieb selbständig! Im gesamten Land wurden bereits 1973 im Zuge der Landkreisreform aus über 100 Altkreisen neun Stadt- und 35 Landkreise. Nun wurden aus über 3.300 Gemeinden am Ende 1.111. Allein im Ortenaukreis blieben von den einst 160 Gemeinden nur noch 51 übrig. 16 von diesen 51 Gemeinden blieben in Ihrem Bestand von der Reform unverändert. Ortenberg, war eine davon.
"50 Jahre Gemeindereform" von David Schmidt:
Wie hatte es Ortenberg nur geschafft, bei der Gemeindereform vor 50 Jahren seine Selbständigkeit zu bewahren, obwohl die Stadt Offenburg alles daran setzte, auch Ortenberg einzugemeinden? Die Antwort darauf liefert die neue Dokumentation von David Schmidt, die zum 50. Jahrestag dieses Ereignisses als "Denkschrift für Hermann Litterst" neu erschienen ist. Sie kann für 12 EUR im Bürgerbüro im Rathaus erworben werden.
Audiobook: Dokumentation Ortenbergs Ringen um den Erhalt der Selbständigkeit